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„Es war wahrscheinlich einfach zu viel, um es in diesem Moment zu verstehen.“   

Mönchengladbach, März 2020 - Inken Wilms
Alles hat ein Ende – dass das Ende meines Freiwilligendienstes so schnell und unvorhersehbar kommt, hätte ich jedoch nicht erwartet. Dass Covid-19 daran beteiligt war, ist denkbar, schließlich kann man im Moment keine Nachrichten mehr schauen oder die Zeitung lesen, ohne nicht in jedem Beitrag mit der Coronakrise konfrontiert zu werden. Aber alles der Reihe nach.
Der März hat gut und sonnig begonnen und überall in Yerevan konnte man Vorbereitungen für den Weltfrauentag am 8. März sehen. Dieser Tag ist für die Armenier von großer Bedeutung und wird einen ganzen Monat lang gefeiert, vom 8. März bis zum 7. April, an diesem Tag ist nämlich Muttertag in Armenien. Auf die Frage, warum der Tag denn so bedeutend ist, erhielt ich zumeist nur die Antwort „Wir lieben unsere Frauen.“ 

Dies zeigte sich im sonstigen Alltag jedoch eher weniger, da Frauen ganz klar unter den Männern stehen und zum Beispiel bei der Begrüßung nicht die Hand gereicht bekommen, ungerne in der Öffentlichkeit rauchend gesehen werden und auch beim Finden eines Partners nicht immer ein großes Mitspracherecht haben. Das Frauenbild ist noch extrem rückständig und das änderte sich auch am 8. März oder den folgenden Tagen nicht – man sah Mädchen und Frauen lediglich mit Blumen in der Hand herumlaufen, die auf der Straße verteilt wurden. Überall wurde man als Frau mit den Worten „qez shnorhavor, du archik es“ (Herzlichen Glückwunsch dir, du bist ein Mädchen) begrüßt und so war es auch am nächsten Tag im Büro. Gefühlt alle fünf Minuten kam ein Kollege in meinen Raum spaziert und gratulierte allen Frauen – natürlich jedoch ohne Handschlag. 

Im Gegensatz zu anderen Ländern oder Städten gab es am Weltfrauentag selber auch keinerlei Demonstrationen oder Proteste, eine feministische Bewegung ist in Armenien quasi gar nicht vorhanden. Ich habe eher das Gefühl, dass Frauen genau wissen, welche Rollenvorstellungen und Erwartungen es an sie gibt, sie es aber akzeptieren und nicht glauben, dass sich jemals etwas ändern wird. 
Diese fehlende Emanzipation war eine der sehr wenigen Dinge, die mir an Armenien gar nicht gefallen haben und ich habe mich immer bemüht, mich davon nicht anstecken zu lassen. Zum Ende meines Freiwilligendienstes haben mir fast alle Kollegen zur Begrüßung die Hand gereicht (nachdem ich sie zur Begrüßung teilweise provokant hingehalten habe) und die, die sich nicht dazu durchringen konnten, haben mir immerhin ein High-Five oder ähnliches gegeben. Außerdem durfte ich auch selber die Bäume tragen, die ich eingepflanzt habe oder Müllsäcke bei Aufräumaktionen und mir wurde nicht mehr alles aus der Hand genommen.

Eine Aufräumaktion Anfang März war tatsächlich auch die letzte Aktion, die ich in Armenien gemacht habe. ATP hat sich mit einer lokalen Supermarktkette zusammen getan und ein so genanntes Clean-up eines öffentlichen Waldes und Parks organisiert. Den ganzen Morgen und Vormittag waren die rund vierzig Teilnehmer damit beschäftigt, Müll zu beseitigen, Laub zu rechen und Bäume zurückzuschneiden. Diese Events organisiert ATP das ganze Jahr über, verstärkt jedoch im Frühjahr, unter anderem um zukünftige Pflanzstellen aufzuräumen und zu säubern.    
Fotos (auf dieser Seite): Inken Wilms
Die restlichen Arbeitstage habe ich wie normal im Büro verbracht und so wie die vorherigen Wochen auch schon das Programm für die französische Freiwilligengruppe, die im Sommer kommen soll, vorbereitet. Zusätzlich habe ich die Aufgabe bekommen, alle Fotos, die innerhalb der letzten Monate auf verschiedenen Events bzw. in den Baumschulen gemacht wurden, auszusortieren, in Ordner zu verschieben und anschließend in die Dropbox von ATP hochzuladen. Das hat mir wirklich viel Spaß gemacht, da ich so noch ein paar Einblicke in die Arbeit von ATP haben und ein bisschen in Erinnerungen schwelgen konnte, da ich bei einigen der Veranstaltungen schon dabei war. Innerhalb der zwei Wochen, in denen ich noch gearbeitet habe, habe ich einiges geschafft und an meinem letzten Arbeitstag – damals wusste ich noch nicht, dass es der letzte war – alle meine Aufgaben beendet, ein vorläufiges Programm und angefertigte Präsentationen an meine Kollegen geschickt und die letzten Bilder hochgeladen. So, als ob ich es quasi schon im Gespür hatte, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. 

Am Wochenende nach dem besagten Tag – ironischerweise war mein letzter Arbeitstag Freitag der 13. – habe ich mit meinen Eltern telefoniert und bin erstmals mit dem Gedanken, wegen der Coronakrise nach Hause zurückzufliegen, in Kontakt gekommen. Die Situation in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt (und ist auch immer noch) deutlich schlimmer als in Armenien, es gab viel mehr bestätigt infizierte Personen, viel mehr Panik und vor allem die berühmt-berüchtigten Hamsterkäufe. Daher schien es für mich nur plausibel, in Armenien zu bleiben und dort die ganze Situation auszusitzen – zumal ich meinen Freiwilligendienst zu keinem Preis frühzeitig abbrechen und das Land sowie mein ganzes Leben dort früher verlassen wollte als geplant. Diesen Entschluss hatten auch alle anderen Freiwilligen dort gefasst, sowohl die deutschen als auch die Freiwilligen aus den anderen Ländern, weshalb wir auch die zahlreichen E-Mails des Auswärtigen Amtes und der deutschen Botschaft in Yerevan, die alle die dringende Empfehlung nach Deutschland zurückzukehren enthielten, nur überflogen und unserer deutschen Entsendeorganisation mitgeteilt, dass wir uns dazu entschieden hatten, trotz allem in Armenien zu bleiben. Am Sonntagabend bekam ich dann die Nachricht, dass das Büro von ATP aufgrund der aktuellen Notsituation im Land geschlossen bleiben würde und ich für die nächste Woche erst einmal zuhause bleiben solle. Die armenische Regierung hatte nämlich zu dem Zeitpunkt verkündet, man solle möglichst zuhause bleiben und nur für wichtige Erledigungen aus dem Haus gehen. Meinen Mitbewohnern ging es ähnlich und somit verbrachten wir die kommende Woche damit, alle zusammen zu kochen, das Wohnheim aufzuräumen, zusammen Sport zu machen und Karten zu spielen. Es war quasi wie Urlaub, den man sich nicht nehmen musste. 

Am Dienstag kam dann schließlich eine Nachricht vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das alle weltwärts-Freiwilligendienste koordiniert und finanziert und somit quasi unser höchster Chef ist. Diese Nachricht besagte, dass aufgrund der aktuellen Krisenlage alle Freiwilligen weltweit dazu aufgefordert werden, sobald wie möglich nach Deutschland zurückzukehren und unser Freiwilligendienst mit der Ankunft in Deutschland beendet wird. Somit besteht nicht die Möglichkeit, auch wenn sich die ganze Situation bevor dem eigentlichen Ende unseres Freiwilligendienstes beruhigt, noch einmal nach Armenien bzw. in unser Projekt zurückzukehren. Nach einem langen Gespräch mit unserer Supervisorin der deutschen Organisation, viel Diskussion und Verzweiflung stand es dann wirklich fest – wir mussten zurück nach Deutschland. Wann und wie das von statten gehen sollte, wusste jedoch niemand. Zu dem Zeitpunkt hatte Armenien alle Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen, der einzige Weg zurück nach Deutschland war also per Flugzeug. Da jedoch immer mehr Fluggesellschaften ihre Flüge strichen und es sowieso keine Direktflüge von Deutschland nach Armenien gibt, wussten wir nicht, ob und wie wir nach Hause kommen sollten. 
Nach einem Gespräch mit unserer armenischen Aufnahmeorganisation am Mittwoch hatten wir dann eigentlich den Entschluss gefasst, erst einmal nicht nach Deutschland zurückzukehren. Obwohl es die Anweisung des BMZ war, erschien es sowohl der Organisation als auch uns zu unsicher, in dieser Lage zu reisen. Wir wussten nicht, ob wir überhaupt einen Flug bekommen, ob wir möglicherweise am Transitflughafen hängen bleiben und ob wir in Deutschland in Quarantäne geschickt werden. Außerdem war bzw. ist das Risiko, sich entweder unterwegs oder in Deutschland zu infizieren, viel größer als wenn man in Armenien bleibt bzw. geblieben wäre. Wir hatten uns darauf geeinigt, erstmal noch ein paar Wochen in Armenien zu bleiben, bis sich die Lage etwas entspannt hätte, und uns dann um die Heimreise zu kümmern – mit der Hoffnung, dass das BMZ dann gesagt hätte, wir sollen einfach da bleiben und können unseren Freiwilligendienst zu Ende führen. 

Diese Entscheidung akzeptierte unsere deutsche Organisation jedoch nicht und reagierte auf unsere E-Mail mit zwei Optionen für einen Heimflug. Einen noch in der gleichen Nacht und einen weiteren für den kommenden Samstag. Da wir alle der Meinung waren, es sei unmöglich, innerhalb weniger Stunden nicht nur sein ganzes Gepäck sondern irgendwie auch sein ganzes Leben zusammenzupacken und nach Hause zu fliegen, wollten wir alle den Flug am Samstag nehmen, um somit zumindest noch ein paar Tage in Armenien und mit den anderen Freiwilligen verbringen zu können. Diese Entscheidung lag im Endeffekt jedoch nicht bei uns und da unsere deutsche Organisation versuchte, uns alle so schnell wie möglich und gesammelt nach Deutschland zu bringen, erhielten wir abends um halb 9 die Nachricht, dass unser Flieger in der gleichen Nacht um 2:45 gehen wird. 

Was soll ich sagen, ich habe mich in meinem Leben noch nie gefühlsloser gefühlt. Man hätte vielleicht erwartet, dass wir in Tränen ausbrechen oder in Panik, aber nein. Jeder ist wortlos in sein Zimmer gegangen und hat innerhalb von drei Stunden sein Leben in seinen Koffer gepackt. Auch wenn ich daran zurückdenke, fällt mir kein passendes Wort ein, um diese Situation zu beschreiben. Es war wahrscheinlich einfach zu viel, um es in diesem Moment zu verstehen. Erst, als wir mit gepackten Koffern, Rucksäcken und Taschen im Flur standen und uns von unseren Mitbewohnern verabschieden mussten, dämmerte es einem so langsam, dass dies wirklich das Ende unseres Freiwilligendienstes bedeutete. Sich von den Menschen zu verabschieden, die die letzten sieben Monate zur zweiten Familie geworden sind, gehörte wirklich zu den schwersten Dingen, die ich jemals getan habe. Aber immerhin konnte ich mich von ihnen noch verabschieden, meinen Kollegen und Freunden hingegen konnte ich nicht mehr tschüss sagen. Ich habe mir und ihnen jedoch versprochen, so schnell wie möglich nach diesem ganzen Wirbel zurückzukehren, wenn auch nur für ein paar Wochen, um mich zu verabschieden und all die Orte zu sehen, die ich jetzt nicht mehr besuchen konnte. 

Nachdem wir nach einem Zwischenstopp in Doha, Qatar, am Frankfurter Flughafen angekommen waren, trennten sich endgültig die Wege der deutschen Freiwilligen. Obwohl ich weiß, dass ich sie alle nochmal wiedersehen werde, da wir ein verpflichtendes Rückkehrseminar haben werden, war auch dieser Abschied extrem schwer. Es wird halt nie wieder dasselbe sein, man wird nicht mehr zusammen wohnen und nicht die Dinge durchleben, die uns die letzten Monate so zusammengeschweißt haben.

 
Ich bin nun seit knapp drei Wochen wieder zurück in Deutschland und fühle mich noch immer unwohl. Mein Zuhause wirkt so klein und vor allem leer und fühlt sich nicht mehr an wie mein Zuhause, auf der Straße verstehe ich auf einmal wieder alles, was die Leute um mich herum erzählen und beim Autofahren muss ich mich wieder anschnallen. Den Kulturschock, der mich die ersten Tage und Wochen in Armenien begleitete, erlebe ich jetzt quasi genau andersherum. Ich wusste zwar immer, dass dieser Moment irgendwann kommen wird, aber jetzt hatte ich nicht mal mehr Zeit, mich da mental irgendwie drauf vorzubereiten. Durch die ganze Coronakrise bin ich auch gezwungen, größtenteils zuhause zu bleiben, ich kann meine Freunde und Familie nicht sehen und nichts unternehmen. Das hilft bei der Wiedereingewöhnung in Deutschland natürlich nicht wirklich. Meine tägliche Gefühlslage schwingt zwischen Trauer darüber, dass ich nicht mehr in Armenien bin und mein ganzes Leben dort vermisse, Verzweiflung, da ich momentan nicht wirklich eine Perspektive oder einen Plan für meine Zukunft habe, und Unmut über das Vorgehen des BMZ (auch wenn viele jetzt wahrscheinlich denken werden, dass es verständlich und gerechtfertigt ist, wie gehandelt wurde, kann ich der Entscheidung in meiner momentanen Lage nichts Gutes abgewinnen) hin und her.
Und obwohl meine Zeit in Armenien nun leider zu einem so unschönen Ende gekommen ist, gehörten diese letzten sieben Monate zu den besten in meinem ganzen Leben. Ich habe unfassbar viel gelernt, wunderbare Menschen kennen gelernt, mich persönlich weiterentwickelt, die vielleicht schönsten Flecken der Erde gesehen und so so viele Erinnerungen gemacht, die ich immer in meinem Kopf behalten werde, egal wie der Freiwilligendienst nun ausgegangen ist. Ich hoffe, dass ich meine Begeisterung über das Land Armenien und die Erfahrungen, die ich dort machen durfte, einigermaßen in meinen Blogeinträgen rüberbringen konnte und meine Enttäuschung über das vorzeitige Ende meiner Zeit dort verständlich ist. Ich hoffe, ich konnte euch etwas die Augen öffnen über ein doch so fremdes Land und euch die Kultur etwas näher bringen. Ich kann nur jedem empfehlen, selber einmal die Reise in ein so „außergewöhnliches“ Land (vorzugsweise natürlich Armenien) zu wagen und verspreche, dass man die Welt danach mit etwas anderen Augen sieht. Natürlich erst, wenn diese ganze Krise vorbei ist…
Ich danke jedem, der meinen Blog gelesen hat, für das Interesse und hoffe, ihr könnt etwas daraus mitnehmen. 
Alles Gute, bleibt gesund und ststessutyun (auf Wiedersehen) !

Inken Wilms

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