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Der 6.000.000. Baum und tierisch gute Erfahrungen

Yerevan, November 2019 - Inken Wilms
Der November – eigentlich ein Monat, den man immer mit tristem Wetter, Ungemütlichkeit und der Farbe grau assoziiert. Diesen November ist allerdings so viel passiert, was mir den Monat vergoldet hat. Die vielen Ausflüge mit meinen Freunden, ganz viele neu gepflanzte Bäume und zwei Welpen gehören definitiv dazu. 

Aber erstmal zurück zu den letzten Tagen im Oktober, über die ich, wie im letzten Blog versprochen, noch berichten wollte. Ich durfte die letzten drei Tage des Oktobers in einem kleinen Bergdorf - Margahovit - im Nordosten Armeniens verbringen, wo ATP vor einigen Jahren ein Bildungszentrum für Umwelt- und Naturschutz erbaut hat und dort regelmäßig Workshops für Schüler und Lehrer abhält. 
Fotos (auf dieser Seite): Inken Wilms
Während ich im Bildungszentrum war, wurden Lehrer geschult und mit allerlei Informationsmaterial ausgestattet, um ökologische Themen in ihrem Unterricht ansprechen und Schüler mit Umweltschutz und der Wichtigkeit dieses vertraut machen zu können. Das Paket mit dem Infomaterial enthält nicht nur Broschüren mit Informationen über aktuelle ökologische Probleme und Prozesse, sondern auch Ideen für Spiele oder Aktivitäten, wie Lehrer diese in den Unterricht einfließen lassen können sowie Plakate mit kurzen, informativen Nachrichten über Wasser und dessen Verschmutzung, Mülltrennung und den Einfluss auf die Umwelt und Ressourcenschonung für den Klassenraum. Zu diesem Training wurde zudem extra ein Experte aus dem Bildungsministerium eingeladen, der verschiedene Vorträge zum Thema Unterrichtsgestaltung hielt und den Lehrern erklärte, welche Möglichkeiten sie haben, ökologische Bildung in den Unterricht einzubinden und den Lehrplan weiterhin zu befolgen.

Da ich noch nicht gut genug Armenisch sprechen kann, um den Vorträgen zu folgen und die Lehrer nicht so viel Programm und “Bespaßung” benötigen wie Kinder, hatte ich sehr viel Freizeit und die Möglichkeit, das Dorf sowie die Umgebung zu erkunden. In Margahovit selber ist nicht viel, aber die Natur und das Bergpanorama drum herum sind einfach traumhaft. Ich hatte auch sehr viel Glück mit dem Wetter und habe die Tage dafür genutzt, viel spazieren zu gehen und nach der vielen Arbeit für den Kongress im Oktober ein bisschen runterzukommen.
Mit frischer Energie konnte ich dann in den November starten und neue Projekte auf der Arbeit in Angriff nehmen. Das größte und wichtigste davon ist momentan das Erstellen eines Handbuches für Lehrer, in dem verschiedene Spiele aufgelistet werden, die Schülern helfen sollen, verschiedene Fähigkeiten und soft skills wie Kommunikation, Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft und Führungsqualitäten zu erlernen bzw. besser zu verstehen, was genau dahinter steckt. Alle diese Spiele sollen in einer Weise auch etwas zum Thema Umwelt und Umweltschutz vermitteln und somit die Schüler auf verschiedenen Ebenen informieren und bilden. Die Erstellung dieses Handbuches liegt komplett – vom Entwurf der Spielideen über die präzise Formulierung der Regeln und Handlungsschritte bis hin zum Design – in meiner Hand und wird, sobald ich fertig bin, nur noch für armenische Lehrer übersetzt. 

Da dieses Handbuch nicht nur an armenische Lehrer verteilt sondern auch an US-amerikanische Partnerschulen geschickt und bei Veranstaltungen neben anderen Broschüren und Infomaterialien auf dem Tisch von ATP liegen soll, ist mir die Wichtigkeit dieser Aufgabe bewusst und ich bin überwältigt davon, dass meine Kollegen mir eine so große Verantwortung übergeben, obwohl ich noch gar nicht so lange im Projekt arbeite. Dies ist aber auf jeden Fall eine sehr große Chance für mich, mich wirklich im Projekt einzubringen und eine tolle Aufgabe und ich bin echt dankbar für das Vertrauen meiner Kollegen.
Ein weiteres Projekt ist momentan die Erstellung verschiedener Plakate mit kurzen Informationen zum Thema Wasserverschmutzung, Plastik und Recycling, erneuerbare Energien und genrell Umweltschutz. Diese Nachrichten sollen durch einfache Grafiken und Statistiken visuell unterstützt werden und unterscheiden sich somit von den bisherigen Plakaten, die ATP erstellt und bis dato an Lehrer verteilt hat. Sie sollen dennoch den gleichen Zweck erfüllen und in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen aufgehängt werden. Somit wird mir momentan auf jeden Fall nicht langweilig auf der Arbeit, zudem ich auch noch regelmäßig zu Pflanzungen oder in Baumschulen fahre.
Diese Ausflüge sind immer ein Highlight für mich, weil ich dadurch einfach die Chance bekomme, die veschiedenen Seiten Armeniens zu sehen. Teilweise fahren wir wirklich durchs ganze Land und die Regionen unterscheiden sich von der Natur her schon ziemlich voneinander. Yerevan und die Region drum herum sind relativ trocken und nicht sehr stark bewäldert, deshalb sieht es hier momentan eher karg und braun aus. Fährt man über einen Berg drüber oder durch einen Tunnel hindurch, kann sich das alles sehr schnell ändern und man sieht den Herbst in seiner ganzen Pracht in farbenfrohen Wäldern. 

Auch das Kapitalgefälle wird einem stark vor Augen geführt. In Yerevan lebt man wie in einer Blase mit teuren Autos, schicken Restaurants und großen Häusern während die Autos auf dem Land nur noch mit Spucke und Klebeband zusammengehalten werden und eine Emissionsklasse besitzen, die man in Deutschland auf keiner Skala finden würde. Die Häuser sehen – wenn sie aus Stein sind – eher aus wie Ruinen oder sind einfach nur Wellblechcontainer und die Straßen sind Schotterpisten, die sich nach Regen in Schlammwüsten verwandeln. Daher sind die Ausflüge für mich einfach wichtig, um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren und alles zu wertzuschätzen, was ich habe. Dies sind Erfahrungen und Werte, die mir kein Studium und keine Ausbildung der Welt vermitteln könnten und daher bin ich wirklich sehr froh, hier zu sein.
Da ich diesen Monat bei mehreren verschiedenen Pflanzungen dabei war, wollte ich einmal meinen Standardtagesablauf dafür erläutern. Wir treffen uns morgens früh am Büro - je nachdem, wie weit wir rausfahren noch weit vor der eigentlichen Arbeitszeit – und machen uns dann entweder mit einem großen Autobus oder einem Pick-up auf den Weg zur Pflanzungsstelle. Unterwegs halten wir immer an einem Supermarkt an, um Verpflegung für den Tag (meistens reicht das auch für mindestens drei Tage) zu kaufen und dann geht’s weiter. Der nächste Stop ist eine der vier Baumschulen, die ATP betreibt, um dort die Setzlinge einzuladen, die gepflanzt werden.
Die letzten Male waren es zwischen 500 und 700, also schon eine Hausnummer. Bei der Pflanzstelle angekommen wird erstmal die Flagge von ATP gehisst, damit auch jeder weiß, wer gerade am Werk ist, und “vorher”-Fotos gemacht. Die Löcher für die Bäume werden im Vorhinein mit einem kleinen Bagger oder einem Bohrer ausgehoben, wofür ich wirklich sehr dankbar bin, denn 500 Löcher zu buddeln und dann noch die Bäume hineinzupflanzen, wäre wirklich eine sehr anstrengende Arbeit. Die Bäume werden dann ausgeladen und nach einem bestimmten Muster, das abhängig von der Art der Bäume ist, in die Löcher gesetzt. 

Wichig ist die Ausgewogenheit der Bäume, es sollten also nicht 10 Bäume der gleichen Art in einer Reihe nebeneinander stehen, damit dem Boden nicht die gleichen Nährstoffe entzogen werden. Der Pflanzprozess an sich ist relativ einfach, man hebt noch eine oder zwei Schaufeln Erde aus dem Loch aus, setzt den Baum hinein und bedeckt die Wurzeln dann mit der zuvor ausgehobenen Erde und klopft diese ein bisschen fest, um dem Baum Halt zu geben. Danach wird er noch bewässert - bei manchen Pflanzungen gibt es vor Ort oberflächennahes Wasser, sodass einige Schläuche verlegt und Pumpen gebaut wurden und man nur einen Hahn aufdrehen muss, um die ganze Fläche zu bewässern, bei anderen wird das Wasser mit einem großen Tank gebracht und dann heißt es Eimer schleppen. An diesen Orten gibt es von den Kommunen aus zuständige Personen, die zunächst täglich, wenn die Bäume größer sind aber nur noch seltener zum Bewässern hinfahren. 
Alle Pflanzungsstellen werden zusätzlich von Mitarbeitern von ATP kontrolliert und die Fortschritte dokumentiert. Ich habe mir fest vorgenommen, in einigen Jahren nach Armenien zurückzukehren und an verschiedene Orte zu reisen, an denen ich Bäume gepflanzt habe und mir dort die “nachher”-Ergebnisse anzuschauen.
Unter den vielen Bäumen, die diesen Monat gepflanzt wurden, war auch ein ganz besonderer dabei - nämlich der 6.000.000. Baum, den ATP hier in Armenien in den Boden setzt. Eine kleine, unscheinbare Fichte wurde hierfür ausgewählt und vom Chef höchstpersönlich aus der Baumschule in Margahovit abgeholt und ganz in den Norden nach Marzavan nahe der georgischen Grenze gefahren. Ich durfte bei dieser Reise dabei sein und Fotos machen. Obwohl es bisher der längste Trip war, war es auch einer der schönsten. Die Landschaft im Norden unterscheidet sich sehr von der in Yerevan und auch das Wetter dort ist ganz anders. Während es in Yerevan noch um die 5 Grad sind, hat es während des Pflanzens in Marzavan einfach angefangen zu schneien – nicht viel, aber trotzdem erwähnenswert. Hinzu kam ein dichter Nebel, der die Außentemperatur nochmal weiter hinunter trieb (auch auf dem Foto zu sehen). 

Die Freude über den Erfolg von ATP, 6 Millionen Bäume in ganz Armenien zu pflanzen, ließ sich dennoch keiner nehmen, vorallem nicht mein Chef, mit dem wir auf dem ganzen Weg zurück nach Yerevan eine Karaokeparty im Auto veranstalteten. Von Abba über Tina Turner bis hin zu armenischen Charts war alles dabei und obwohl wir erst viel später als üblich zuhause waren, konnte man diesen Tag als erfolgreich abstempeln.  
Das war jedoch bei weitem nicht der einzige erfolgreiche Tag in diesem Monat. Ein weiteres Highlight war ein Ausflug nach Garni, einem alten Tempel in der Nähe von Yerevan, der in den Bergen liegt und somit ein super schöner Ort zum Wandern ist. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt machte ich mich mit drei meiner Mitbewohner auf, um dort den Tag zu verbringen.

Nach ein bisschen Kraxelei die Berge hinunter musste natürlich erstmal eine Pause eingelegt werden, die durch die Anwesenheit von zwei winzigen Hundewelpen versüßt wurde, die neben unserem Rastplatz herumstromerten. Da die beiden offensichtlich keine Mutter mehr hatten und am ganzen Leib zitterten vor Kälte, beschlossen wir, sie mitzunehmen. Obwohl wir eigentlich keine Tiere in unserem Wohnheim halten dürfen, hätte ich es nicht übers Herz gebracht, die zwei dort zu lassen, wo sie den Winter mit Sicherheit nicht überlebt hätten. 
Gemeinsam haben wir beide jetzt ein wenig aufgepäppelt und glücklicherweise für einen schon ein neues Zuhause gefunden. Was mit dem zweiten passiert, ist bisher noch ungewiss, aber ich bin davon überzeugt, auch für sie einen guten Ort zu finden, wo sie ein besseres Leben führen kann als draußen in der Kälte und bei uns im Wohnheim.  


Wenn wir schon bei Tieren sind, muss ich auch unbedingt von meiner Begegnung mit Braunbären erzählen. Einige meiner Mitfreiwilligen aus Deutschland, die ich beim Vorbereitungsseminar kennen gelernt habe, arbeiten in einem Naturreservat knappe zwei Stunden von Yerevan entfernt. Am Rande dieses Reservates liegt eine Auffangstation für Braunbären, die es in Armenien tatsächlich noch in freier Wildbahn gibt. In dieser Station werden aus Gefangenschaft gerettete Bären aufgepäppelt und kranke versorgt und darauf vorbereitet, wieder in die freie Wildbahn integriert zu werden. 
Da die Arbeit der Freiwilligen dort jedoch nicht nur die Pflege von Bären sondern unter anderem auch Wiederaufforstung umfasst und immer wieder Helfer zum Bäume pflanzen gesucht werden, machten wir uns an einem Samstag mit einigen Leuten aus dem Wohnheim auf nach Urtsadzor, das Dorf in der Nähe des Reservates. 

Dieser Tag wird mir ebenfalls noch sehr lange in Erinnerung bleiben – einerseits, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Bären aus der Nähe gesehen habe (wie man auf dem Foto sieht, haben uns nur die beiden Zäune getrennt) und das war schon sehr beeindruckend. Diese Bären sehen einfach total flauschig aus und sehr lieb, aber wenn sie einmal ihre riesige Pranke heben oder das Maul aufmachen und eine Reihe spitzer, scharfer Zähne zur Schau stellen, ist man doch ganz froh, dass auf einem der beiden Zäune Strom ist. Der andere Grund, weshalb ich den Tag nicht vergessen werde, ist, dass wir uns alle darauf einstellt hatten, um die 500 Bäume auf dem Gelände neben der Auffangstation zu pflanzen, im Endeffekt aber den ganzen Tag nur damit beschäftigt waren, die Löcher dafür zu buddeln. Das klingt jetzt erstmal nicht dramatisch, aber wenn man für mehrere Stunden an einem Berghang damit beschäftigt ist, einen halben Meter tiefe und dreißig Zentimeter breite Löcher in einen super steinigen Boden zu graben, dann weiß man am Ende des Tages definitiv, was man getan hat. Umso dankbarer bin ich auch seitdem, dass bei den Pflanzungen von ATP die Löcher schon im Vorhinein ausgehoben werden. Dennoch war es total toll, meine Freunde nach einer Weile nochmal wiederzusehen und einen kleinen Einblick in ihr Projekt und das och ganz anderes Leben zu bekommen.   
Für meine Mitfreiwilligen - egal ob sie in Yerevan wohnen oder außerhalb - bin ich wirklich tagtäglich dankbar, denn sie machen meine Erfahrungen hier einfach noch besser und ich bin wirklich super froh, sie alle kennen gelernt zu haben. Der interkulturelle bzw. - bei den Deutschen - der überregionale Austausch ist eine weitere Sache, die im Studium oder einer Ausbildung eher selten auf dem Stundenplan stehen und trägt somit zu der Einzigartigkeit meiner ganzen Reise bei. Dies ist, glaube ich, ein gutes Schlusswort für diesen Blogeintrag, der gefühlt bisher der längste ist. Ich bin sehr gespannt, was mich nächsten Monat so alles erwartet. 

Bis dahin sende ich viele herzliche Grüße aus Armenien und arrayzhm! 

Inken Wilms
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