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Vom Volunteer zur Fotografin des Premierministers

Yerevan, November 2019 - Inken Wilms
Was ein Monat! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen, weil einfach so viel passiert ist. Yerevan fühlt sich inzwischen nahezu zu 100% wie mein Zuhause an, immer mehr armenische Wörter und Sätze fließen in meinen Alltagsgebrauch ein und alleine mit dem Bus zu einem fremden Ziel zu fahren bereitet mir keine Alpträume mehr.

Im Fokus stand diesen Monat jedoch meine Arbeit. Gleich am ersten Wochenende fand ein Workshop für Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer aus dem ganzen Land statt. Dieser Workshop stellte den Abschluss eines einjährigen Projektes dar, bei dem verschiedene Schulklassen Aktionen und Projekte zum Thema Wasserverschmutzung und  -verschwendung planten und durchführten und somit landesweit Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenkten. Während des Workshops wurden diese Projekte vorgestellt und zudem finale Lösungsansätze gesucht und diskutiert. Da ich aufgrund fehlender Fach- und Armenischkenntnisse bei den inhaltlichen Sequenzen nicht viel helfen konnte, wurde ich als “Mädchen für alles” und vorallem als Fotografin eingeplant. Ich verstand zwar nicht viel, worum es ging, aber es machte mir trotzdem unglaublich viel Spaß, dabei zuzuschauen wie begeistert die Jugendlichen an verschiedenen Aktionen wie Rollenspielen oder dem Untersuchen von Wasserproben teilnahmen.
Fotos (auf dieser Seite): Inken Wilms
Um die Nachhaltigkeit der geleisteten Arbeit zu garantieren, wurden alle teilnehmenden Lehrer nach dem Ende des Wochenendes mit einem Set ausgestattet, in dem sich neben Infomaterialien auch einige Ideen und Anleitungen für themenorientierte Aktionen und Spiele befanden, die die Lehrer zukünftig zur Gestaltung von ökologischen Unterrichtseinheiten verwenden können. Diese Pakete zu packen war und ist noch immer eine meiner Aufgaben, da auch von anderen Schulen und Lehrern der Wunsch nach Materialien zur Unterrichtsvorbereitung geäußert wurde und wird. Da das Armenia Tree Project (ATP) einen weiteren Standort in den USA hat und dort ebenfalls mit einigen Schulen zusammen arbeitet, sind einige dieser Sets auf Englisch, was es mir deutlich erleichtert hat, den genauen Inhalt des Workshops nachvollziehen zu können.


Obwohl ich durch den Workshop das Wochenende über arbeiten musste und somit nicht wie meine Mitfreiwilligen die freie Zeit für Ausflüge nutzen konnte, würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass mir das etwas ausgemacht hat. Ich hatte die Chance, zwei sehr tolle Tage in Etschmiadzin zu verbringen, einer Stadt in der Nähe von Yerevan, die als das christliche Zentrum Armeniens gilt. Dort befindet sich nämlich die älteste Kathedrale Armeniens bzw. der ganzen Welt (wenn man den Armeniern Glauben schenkt), die im Jahr 301 erbaut wurde. Nicht nur symbolisch sondern auch administrativ hat diese Kathedrale eine große Bedeutung, da sich dort der Verwaltungssitz der armenisch-apostolischen Kirche befindet. Dementsprechend touristisch angehaucht ist die Kleinstadt. Das Hotel, in dem der Workshop stattfand, war nahezu überladen mit armenischen Teppichen und Wandmalereien , konstant dudelnder Volksmusik und Attraktionen wie der Demonstration der Zubereitung des Kulturbrotes Lavash oder Tanzeinlagen armenischer Tänzergruppen.

Nicht nur die Umgebung sondern vor allem die teilnehmenden Menschen haben dieses Wochenende so großartig gemacht. Trotz fehlender Armenischkenntnisse meinerseits und fehlender Englischkenntnisse ihrerseits wurde ich mit einer so großen Herzlichkeit empfangen, die ich in meinem Leben noch nie erfahren habe.
Was mich zusätzlich fasziniert hat, war die Begeisterung und die Bereitschaft der Jugendlichen, sich mit der Problematik der Wasserverschmutzung und -verschwendung auseinander zu setzen und aktiv nach Lösungsansätzen zu suchen. Auch mit mir wurde darüber diskutiert (die jüngere Generation kann deutlich besser Englisch als die Älteren) und außerdem Interesse an meiner Freiwilligenarbeit geäußert und Fragen über Deutschland gestellt. Diese Offenheit und Zwanglosigkeit fällt mir jeden Tag auf und ist definitiv etwas, was ich mit nach Deutschland nehmen werde. Zum Abschluss wurden dann natürlich noch Fotos mit mir gemacht, da die Armenier alles, was in ihrem Leben passiert, in Bildern festhalten und ich anscheinend als Deutsche, die freiwillig für ein Jahr nach Armenien geht, die Attraktion schlechthin bin.

Der Monat hat somit sehr gut gestartet. Zurück im Büro am Montag standen dann die Vorbereitungen für ein weiteres, viel größeres Event an, den Forest Summit 2019. Dies ist ein mehrtägiger Kongress zum Thema Aufforstung in Armenien vor dem Hintergrund der globalen Maßnahmen zum Klimaschutz. Hierzu wurden nicht nur armenische sondern auch viele internationale Professoren und Experten als Vortragende eingeladen, was diesen Kongress zum ersten, größten und wichtigsten Zusammentreffen zum Thema Natur- und Umweltschutz in Armenien machte. ATP war neben einem Forschungszentrum der Organisator und Gastgeber dieser Konferenz – man kann sich also ungefähr vorstellen, mit wie viel Hochdruck daran gearbeitet wurde, zumal die eigentlichen Aufgaben wie die Pflege der Bäume und das Vorbereiten für Pflanzungen im nächsten Jahr ja keinesfalls vernachlässigt werden durften. 
Die Vorbereitungen liefen zwar schon seit dem letzten Jahr, da sich jedoch kurz vor Anmeldungsschluss noch viel mehr Teilnehmer registriert hatten, als eigentlich geplant war, musste dann zwei Wochen vor Beginn der Konferenz noch einmal alles geändert werden. So kam es dazu, dass ich in dieser Zeit meine Kollegen häufiger sah als meine Mitbewohner und mehr Zeit auf der Arbeit verbrachte als zuhause. Hinzu kam auch eine Wochenendschicht, da die Eröffnung der Konferenz an einem Sonntag stattfand und am Samstag alle letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Dass ich somit bis 10 Uhr abends damit beschäftigt war, 350 Geschenktaschen zu befüllen und Beschilderungsplakate zu basteln, machte mir herzlich wenig aus. Die Arbeit in meinem Projekt sowie mit meinen Kollegen macht mir einfach großen Spaß, weshalb ich auch gerne dazu bereit bin, mein Wochenende zu opfern und auszuhelfen, wo ich kann.

Noch vor der eigentlichen Eröffnung der Konferenz stand morgens eine Pflanzung von 160 Bäumen mit Teilnehmern des Aurora-Forums an, einer weltweit tätigen Hilfsorganisation für Menschenrechte. Dass ich in diesem Zuge zahlreichen Nobelpreisträgern und Experten auf dem Gebiet humanitärer Hilfe und Innovation gegenüber stehen würde, hatte mir vorher jedoch keiner gesagt. Das eigentliche Highlight dieser Veranstaltung war jedoch, dass ich, eigentlich nur als Fotografin eingeteilt, meinen ersten Baum pflanzen konnte. Das stellte sich viel einfacher dar, als ich es mir vorgestellt hatte, da die Löcher für die Bäume schon ausgehoben waren und ich zudem Unterstützung von dem Freiwilligen, der letztes Jahr bei ATP gearbeitet und dessen Platz ich jetzt eingenommen habe, bekam. Ich musste also quasi nur den Baum in das ausgehobene Loch setzen und gerade festhalten, während er ein bisschen Erde darauf schippte und anschließend diese Erde etwas festklopfen und bewässern. Dennoch war ich stolz wie Oskar und habe “meinen Baum” seitdem bereits zweimal besucht. 
Er steht in der Nähe eines sehr symbolischen Ortes, dem Genoziddenkmal, das an den Völkermord der Armenier 1914 – 1923 erinnert und für die Armenier von unschätzbarem Wert ist. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich einen kleinen Teil dazu beigetragen habe, diesen Ort sowohl symbolisch (Bäume stehen für das Leben und somit symbolisch für die Überlebenden des Genozids) als auch optisch zu verschönern. Zudem habe ich den Baum gesehen, den Angela Merkel 2018 während ihrer Reise nach Armenien in Gedenken an die Opfer des Völkermordes neben dem Denkmal gepflanzt hat. Neben ihrem Baum befinden sich zahlreiche weitere, die von verschiedenen Regierungsmitgliedern aus der ganzen Welt gepflanzt wurden, um somit symbolisch ihre Anteilnahme auszudrücken. Es ist ein unglaublich berührender und tragischer Ort, aber dennoch würde ich jedem, der einmal nach Armenien reist, empfehlen dort hinzugehen und einfach die Atmosphäre zu spüren. Mir hat es sehr dabei geholfen, den immer noch präsenten Schmerz und das Leid der Armenier nachzuvollziehen.
Nach dieser Pflanzung ging es dann weiter zur Eröffnungsfeier der Konferenz, die in einem der schicksten Hotels in Yerevan stattfand. Neben gutem Wein und leckeren Häppchen (für beides sind die Armenier bekannt und angesehen) gab es für mich die Chance, viele interessante Menschen kennenzulernen und tolle Momente in Fotos festzuhalten. Der restliche Tag verging wie im Fluge und wieder einmal kann ich nicht sagen, dass es mich irgendwie gestört hätte, einen ganzen Sonntag lang zu arbeiten.
Der darauffolgende Montag stellte für ATP den logistischen Höhepunkt dar, da die Teilnehmer der Konferenz die Möglichkeit hatten, sich eine von ATP betriebene Baumschule und ein Lernzentrum anzuschauen und somit einen besseren Einblick in die Arbeit des Projektes zu bekommen. Dazu mussten sie jedoch einmal durch das halbe Land fahren (Armenien ist nicht so groß) und während der Reise unterhalten werden. Wieder als Fotografin tätig hatte ich ebenfalls die Möglichkeit, diesen Ausflug mitzumachen und, trotz leider schlechten Wetters, viele tolle Augenblicke festzuhalten. Es würde den Rahmen dieses Blogeintrags sprengen, selbst nur die schönsten Fotos von diesem Tag einzufügen, deshalb würde ich interessierten Personen ans Herz legen, einmal auf die Facebookseite von ATP zu schauen, wo einige dieser Bilder veröffentlicht wurden. Auch dieser Tag war einfach großartig und – obwohl ich über 12 Stunden unterwegs war – mein Lieblingstag der ganzen Konferenz. Die folgenden Tage waren nämlich weniger praxis- sondern mehr theorieorientiert. Es gab zahlreiche Vorträge und Diskussionsforen zu diversen ökologischen Themen alle mit dem Blick darauf, wie ein Aufforstungsprogramm in Armenien am besten ablaufen könnte.

Ein Highlight hierbei war definitiv die Eröffnungsrede des Premierministers Nikol Pashinyan. Seitdem dieser letztes Jahr das Gesicht der sogenannten “samtenen Revolution” (einer friedlichen, nahezu gewaltfreien Revolution) war und nach dem Sturz der bis dorthin bestehenden, korrupten Regierung der erste Premierminister ist, den wirklich die armenischen Bürger gewählt haben, gilt er als Armeniens Nationalheld. Umso unglaublicher war es für mich, dass ich Fotos von ihm und meiner Chefin machen sollte, wie sie vor dem Pressebanner der Konferenz posierten. Für dieses Foto wartete sie extra auf mich, was mir den Spitznamen “Pashinyans offizielle Fotografin” einbrachte.
Der Tag klang dann schließlich bei einem großen Galadinner aus, bei dem ich zum ersten Mal erfahren habe, wie armenische Feiern ablaufen. Nach unglaublich viel leckerem Essen und Wein wurden die Tische beiseite gerückt, um auf der neu entstandenen Tanzfläche zu typisch armenischer Volksmusik typisch armenische Volkstänze zu tanzen. Hierbei ist es egal, woher man kommt oder ob man tanzen kann oder nicht – die Armenier integrieren einen gnadenlos, sodass nach einer Weile fast der ganze Saal auf den Füßen und am tanzen war. Das war ein unglaublich großartiges Gefühl und obwohl wir alle vor Augen hatten, am nächsten Morgen wieder pünktlich auf der Konferenz erscheinen zu müssen, wollte keiner den Abend vorzeitig beenden.

Kaum zurück im Büro nach der Konferenz ging es dann wieder weiter mit Vorbereitungen – diesmal für einen mehrtägigen Workshop für Lehrer, der in einem von ATP extra eingerichteten Lernzentrum in einem Bergdorf stattfindet. Während dieses Workshops sollen die Lehrer mehr über Umweltschutz und mögliche Projekte und Aktionen, die sie mit ihren Schülern durchführen können, erfahren und dazu motiviert werden, ökologische Einheiten in ihren Unterricht einfließen zu lassen. Dieser Workshop findet an den letzten Tagen im Oktober statt, deshalb werde ich darüber in meinem Blogeintrag für November berichten.  
Ich könnte noch ewig über meine Arbeit weiterreden, weil ich mich jeden Tag mehr in das Projekt verliebe, aber ich möchte den Rahmen dieses Blogs nicht komplett sprengen. Als Fazit kann man auf jeden Fall sagen, dass dieser Monat sehr ereignisreich und trotz der vielen Überstunden einfach nur toll war. Neben der Arbeit habe ich nämlich auch viele tolle Ausflüge mit meinen Mitfreiwilligen unternommen und nochmals gemerkt, was für ein spektakuläres Land Armenien einfach ist. Hierfür lasse ich die Fotos für sich sprechen, aber da man die wunderschönen Panoramen selbst mit der besten Kamera nicht wahrheitsgetreu aufnehmen kann, empfehle ich jedem, der noch kein Reiseziel für seinen nächsten Urlaub hat, einmal in Armenien vorbeizuschauen.
Dieses Land hat eine so großartige Kultur und atemberaubende Natur und die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen ist einfach überwältigend, das sollte man mal erlebt haben. Ich habe mich inzwischen in der doch ganz anderen Welt gut eingelebt und genieße tagtäglich das Leben hier. Der Sprachkurs, den alle Freiwilligen zweimal die Woche besuchen, hilft mir auch enorm dabei, mich immer mehr zu integrieren und Alltagssituationen nicht zwingend auf Englisch bewerkstelligen zu müssen. Auch das Leben im Wohnheim ist inzwischen schon normal geworden. Ich hätte am Anfang gedacht, dass ich es schwieriger finden würde, mit so vielen Menschen auf so engem Raum zusammen zu leben und vergleichsweise wenig Privatsphäre zu haben, aber meine Mitbewohner sind einfach alle super und mir schon sehr ans Herz gewachsen. 
In den nächsten Tagen sollen noch drei weitere Freiwillige ankommen, auf die ich schon sehr gespannt bin. Der Austausch untereinander über die verschiedene Sprachen oder Schul- und Regierungssysteme oder alleine die verschiedenen Wege, Reis zu kochen, sind einfach super interessant und geben einem die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und Einblicke in andere Kulturen zu bekommen.    

So gesehen freue ich mich sehr auf die weiteren 10 Monate (unglaublich, dass bereits schon zwei vorbei sind) und auf die Abenteuer und Erlebnisse, die mich noch erwarten.
                                                                                                                                                                                        
Viele liebe Grüße aus Armenien und arrayzhm!  
                                                                                                                                                                                      
Inken Wilms                                            

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